Friedliche Revolution

Blick auf den Uniriesen während des Lichterfests; Foto: Fraktion

Die Demonstration am 9. Oktober 1989 war wohl das zentrale Ereignis der Friedlichen Revolution in der DDR, an dem 70.000 Männer und Frauen ihre Freiheit und sogar ihr Leben im Einsatz für Demokratie riskierten. Wir gehen zusammen mit Ingo Sasama (*Biografisches an Ende des Textes) auf eine Reise in diese Zeit und rund um den Ring auf den Spuren der Demonstrant*innen …

Station 1: Markt

Bronzeabdrücke von Panzerketten neben dem Alten Rathaus; Bild: Fraktion

Zwei eher unscheinbare Bronzeabdrücke von Panzerketten, neben dem Alten Rathaus ebenerdig in den Boden des Salzgässchens eingelassen, erinnern an die militärische Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953.

Der Einsatz von Schusswaffen und der Verhängung des Ausnahmezustandes durch die sowjetische Besatzungsmacht forderten im Bezirk Leipzig neun Tote und mindestens 95 Verletzte. Von fast 1.000 Verhafteten wurden in den Folgemonaten über 100 Personen in Schauprozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, einer davon zum Tode.

Heute erinnert in der Straße des 17. Juni eine Gedenktafel am Eingang der ehemaligen Haftanstalt. Seit 1994 gibt es die Grab- und Gedenkanlage für die „Opfer kommunistischer Gewalt 1945 - 1989“ auf dem Leipziger Südfriedhof, eher unscheinbar neben dem noch immer protzigen „Sozialistischen Ehrenhain“.

Nun möchte ich euch mitnehmen auf meine Erinnerungsreise an jenen 9. Oktober 1989. Es ist ein trister grauer Nieselregentag, an dem sich nur schwer der oft dominierende „Industrienebel“ ertragen lässt …

Station 2: Nikolaikirche

Blick auf die Nikolaikirche mit der Säule im Vordergrund; Foto: Fraktion

Die Nikolaikirche ist Keimzelle und Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution.

Schon seit längerem war sie offene Begegnungsstätte für Andersdenke und Basisgruppen unterschiedlichster Ausrichtung. Ihre stärkste Wirkung nach außen hatten und haben bis heute wohl die aus der Friedensdekade geborenen montäglichen Friedensgebete. Gegen Wettrüsten, ökologische Zerstörung, in der Aussöhnung aller Konfessionen bis hin zum Treffpunkt für die Ausreisewilligen haben sie immer wieder aktuelle Meilensteine gesetzt.

Ein mutiger Kirchenvorstand, Gemeindepfarrer Führer und ein kluger ausgleichender Superintendent und langjähriger Stadtverordneter unserer Fraktion Friedrich Magirius – 2022 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt – machten dies möglich.

Drei von uns Grünen durchgesetzte Kunstwerke auf dem Nikolaikirchhof erinnern an diese Ereignisse:

Der Brunnen, wo jeder neue Tropfen den Brunnen zum Überlaufen bringt, die (leider inzwischen defekten) Leuchtsteine, die im Laufe der Zeit immer mehr werden und nicht zuletzt die Säule der Nikolaikirche, wo die Kirche auch symbolisch raus zu den Menschen geht.

Spannende Erfahrungsberichte zur Nikolaikirche aus dieser Zeit finden sich hier: https://www.ekd.de/23412.htm

Die Friedensgebete als Ort der Protest- und Randgruppen platzte 1989 seit Wochen aus allen Nähten, es war oft schon lange vor Beginn kein Hereinkommen mehr.

Nach Ende des Friedensgebetes setzte sich der Zug in Bewegung Richtung Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) und weiter zum Hauptbahnhof. Rufe wie „Keine Gewalt“, „Wir sind das Volk“, „Gorbi, Gorbi“ und „Wir sind keine Rowdys“, waren weithin zu hören.

Station 3: Augustusplatz

Augustplatz mit der Oper im Hintergrund; Bild: Fraktion

Tausende Menschen erwarteten diesen bereits auf dem Karl-Marx-Platz. Und doch herrschte dort gespenstische Stille. Nur die wackelnden Gardinen der abgedunkelten Oper verrieten ungebetene Kameraleute. Der Straßenbahnverkehr war schon seit Stunden eingestellt, die Umgebung war menschenleer. Die Staatsmacht hatte per Leserbrief in der LVZ gewarnt, dass „den konterrevolutionären Umtrieben“ an diesem Tag ein Ende gemacht werde.

Weiter Richtung Bahnhof stand die ganze Goethestraße voll von den berüchtigten Polizei-"Ello"-Einsatzwagen. In allen Durchgängen der Wohnhäuser standen jeweils dutzende mit Maschinenpistolen, Gummiknüppeln und Schilden bewaffnete Bereitschaftspolizei, vor dem Bahnhof eine Kette von ihnen, um den Demonstrationszug aufzulösen. Man ging eng beieinander, vielfach den Nachbarn fest untergehakt. Ein Entrinnen wäre unmöglich gewesen.

Und manch einer wird sich in diesem Moment an die blutige Niederschlagung des Volksaufstandes am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking erinnert haben, wo es unzählige Tote gab und die Demokratiebewegung in China im Keim erstickt wurde.

Kurz vor dem Konzert im Gewandhaus verlas der Dirigent und spätere Ehrenbürger der Stadt Kurt Masur über den damals noch vorhandenen Stadtfunk einen Aufruf zur „Besonnenheit“ samt dem Versprechen, sich für einen politischen Dialog einzusetzen, den Vertreter der DDR-Staatsführung und der Opposition gemeinsam formuliert hatten.

Da Erich Honecker in Berlin nicht zu erreichen war, hob der amtierende Leipziger SED-Sekretär angesichts der Übermacht der 70.000 friedlichen Demonstrant*innen den Einsatzbefehl eigenständig auf. „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten“, so später der Volkskammerpräsident Horst Sindermann. Dafür hatten die Offiziere keinen Einsatzbefehl.

Auf dem Augustusplatz begegnet man einer der Stelen der „Orte der Friedlichen Revolution 1989“. Das Bürgerkomitee Leipzig e.V. schuf 2010 die Ausstellung im Leipziger Stadtraum. Dort werden auf Stelen aus Streckmetall, das in der DDR für Grenzsicherung eingesetzt wurde, die 20 wichtigsten Punkte markiert, an denen 1989/90 Aktionen des politischen Widerstandes in Leipzig stattfanden. Mit der Errichtung der thematischen Stelen mit Texten und Fotos werden im Stadtbild wichtige Orte der Friedlichen Revolution erlebbar und halten somit die Erinnerung an das Umbruchsjahr 1989 wach.

http://www.runde-ecke-leipzig.de/index.php?id=510

Station 4: Hauptbahnhof

Fassade des Hauptbahnhofes; Foto: Fraktion

Bei unserem Sparziergang zurück in die Zeit wollen wir kurz in den Bahnhof zu Gleis 24 abbiegen. Dort platziert ist der „Regierungssalontriebwagen“ (Schnelldieseltriebwagen SVT 137 225 Bauart "Hamburg") der zu DDR-Zeiten als luxeriöses Transportmittel der Regierung genutzt wurde. Manch ein durch Unpünktlichkeit, kalte Züge oder durch Überfüllung geplagter Reisender hat da neidvoll geschaut … 1990 wurde er als Museumsfahrzeug aufgearbeitet.

 

Station 5: Revolutions-Kunstwerk

Wandgemälde von Michael Fischer-Art; Foto: Fraktion

Kunst mal ganz anders

Weiter Richtung Blechbüchse: An der Häuserfassade zwischen den Straßen Brühl und Richard-Wagner-Straße gegenüber vom Hauptbahnhof befand sich von 2009 bis zur Bebauung des Grundstücks nebenan 2022 das größte Kunstwerk zu 1989. Es war ein Gemälde des Künstlers Michael Fischer-Art. Auf 3.000 Quadratmetern zeigte es die Massendemonstrationen in Leipzig und viele der damaligen Forderungen und einen Teil der Vorgeschichte der Revolution. Vermutlich 2024/25 wird das Gemälde dem auf dem direkt benachbarten Grundstück geplanten Hotelbau zum Opfer fallen. Der Künstler will vorab versuchen, zumindest Teile des Bildes abzulösen und zu retten.

Station 5: Am Brühl

Der Richard-Wagner-Platz mit Blick auf die Blechbüchse mit der Evangelisch-Reformierten Kirche im Hintergrund; Foto: Fraktion

Nachdem sich die Polizeiketten zurückgezogen hatten, zog der Demonstrationszug relativ gelöst und erleichtert über die Deeskalation Richtung Brühl, unter dem damals noch vorhandenen „Blauen Wunder“ durch. Es war eine riesige Fußgängerbrücke, die über alle sechs vorhandenen Fahrbahnen führte (eine ebenerdige Querung gab es nicht).

Nostalgiker von AfD und Linken wünschen sich diese bis heute zurück. Sie werden wohl nie in der Verlegenheit gewesen sein, ein Stahlfahrrad von damals oder einen Kinderwagen darüber gewuchtet zu haben. Auch war die Brücke ein beliebter Ort für die „Spanner“ und Observierer bei der Friedlichen Revolution, was wohl das Interesse der Genannten verständlicher macht.

Der rechts liegenden Reformierten Kirche kommt eine besondere Bedeutung zu. Von dessen Turm (die kleine Luke inmitten des Aufgangs) filmten zwei mutige Journalisten aus Berlin die Demonstration und schmuggelten die Bilder anschließend über Westberlin in die damalige BRD und auf alle Bildschirme der freien Welt. Dies sind die einzigen vorhandenen Aufnahmen von diesem Tag. Sie haben dafür ihr Leben riskiert …

Station 7: Die Runde Ecke

Runde Ecke; Foto: Fraktion

Sie war der Sitz der Stasi. Am Abend des 4. Dezember 1989 besetzten Leipziger Bürgerrechtler*innen das Gebäude und legten die Arbeit der Stasi-Zentrale lahm. Bei den Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 war das Haus oft verhasstes Ziel des Bürgerprotests und des angestauten Frustes der politisch Verfolgten. Durch das klare und besonnene Handeln der Bürgerrechtler*innen (Menschenketten vor dem Eingang mit „Neues Forum“ und „Keine Gewalt“-Schärpen) - ich habe selbst noch ein Original von damals - konnten Gewaltübergriffe auf Menschen und Gebäude verhindert werden.

Heute ist sie Sitz der Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke". In den ehemaligen Büros der Stasi-Offiziere können sich Besucher*innen über Funktion, Arbeitsweisen und Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR informieren.

https://www.runde-ecke-leipzig.de/

Station 8: Neues Rathaus

Neues Rathaus; Foto: Fraktion

Das war an diesem Abend verwaist und gewinnt seine Bedeutung erst in etwas späterer Zeit, als die "Runden Tische“ die Verwaltung der Stadt und den Aufbruch in die neue Demokratie organisierten.

Geschichte und Geschichten des Neuen Rathauses gibt es auf unserer Tour „Das Neue Rathaus“.

Auch hier lohnt ein kleiner Abstecher und ein kleiner Exkurs in ein spezielles Thema.

Station 9: Zentrale Hinrichtungsstätte der DDR

Eingangstür und Gedenktafel an der Zentralen Hinrichtungsstätte der DDR; Foto: Fraktion

In der Leipziger Südvorstadt, in separat zugänglichen Räumen der ehem. Strafvollzugseinrichtung Alfred-Kästner-Straße, wurden 1960 bis 1981 alle in der DDR verhängten Todesurteile vollstreckt. Die Räume befinden sind weitgehend immer noch im originalen Zustand.

Prozesse mit Todesurteil entstanden i.d.R. unter politischem Einfluss und ohne ein rechtsstaatliches Verfahren.

Das Bürgerkomitee bietet derzeit jährlich zur Museumsnacht und zum Tag des offenen Denkmals Führungen an. In Zukunft soll hier ein justizgeschichtlicher Erinnerungsort entstehen und an die Opfer politischer Willkürherrschaft, unabhängig von deren strafrechtlicher Schuld, erinnern.

 

Station 10: Leuschnerplatz

Blick über den Wilhelm-Leuschner-Platz mit dem Uniriesen im Hintergrund; Foto: Fraktion

Der Leuschnerplatz hat in der Friedlichen Revolution nie eine Rolle gespielt. Umso verwunderlicher ist es, dass er von der Verwaltung so hartnäckig als Standort für ein Freiheits- und Einheitsdenkmal favorisiert wird.

Ein wichtiges Ereignis im Vorfeld der Revolution gibt es aber auch hier zu berichten.

Der Leipziger Beataufstand bzw. Beatdemo vom 31. Oktober 1965 war die größte nichtgenehmigte Demonstration in der DDR nach den Ereignissen vom 17. Juni 1953 und blieb neben den Geschehnissen am 7. Oktober 1977 auf dem Berliner Alexanderplatz (468 Festnahmen) bis zum Herbst 1989 in dieser Form einmalig und von besonderer historischen Bedeutung für die spätere Friedliche Revolution. 264 Demonstrant*innen wurden damals festgenommen. Das Ereignis hatte erhebliche Auswirkungen auf die Jugend- und Kulturpolitik der DDR-Führung und indirekt auf die Jugendkultur in der DDR.

Die Grundlage war das Verbot von 54 von 58 Leipziger Bands. In Leipzig führte vor allem das Verbot der Band »The Butlers« zu Protesten. Mehr als 2.000 Jugendliche hatten sich zu Beginn versammelt. Die aufkommende Beatbewegung hatte auch in DDR viele Anhänger gefunden. Das gemeinsame Musizieren in der Gruppe war für viele Jugendliche auch Ventil gegen staatliche Zwänge.

Aufgrund der Initiative unserer Fraktion muss die Stadt hier eine würdige Erinnerung schaffen.

 

Station 11: Zurück auf dem Augustusplatz

Blick auf den Uniriesen während des Lichterfests; Foto: Fraktion

Von hier aus sind wir aufgebrochen, vorbei an Bahnhof und der Reformierten Kirche, von deren Turm heimlich gefilmt wurde. Die Demonstrant*innen zogen an der Runden Ecke, dem Sitz der Stasi, vorbei. Und jede Woche wurden es mehr. Als Anfang November eine halbe Million Menschen um den Ring liefen, starteten die Letzten, als die Ersten schon wieder auf dem Augustusplatz ankamen.

Fest im Kalender und den Herzen der Leipziger*innen wird jährlich mit Feierlichkeiten und einem städtischen Feiertag diesem Ereignis gedacht. Wenn aus den Fenstern des Uniriesen die »89« auf den Augustusplatz strahlt, dann ist es wieder so weit. Sehen wir uns?

Ingo Sasama; Foto: Martin Jehnichen

Ingo Sasama, Jg. 1960, hat in der DDR ein kirchliches sozialpädagogisches Studium absolviert und mit Kinder- und Jugendgruppen gearbeitet, hat Ausstellungen und Konzerte von ausgegrenzten christlichen Künstler*innen organisiert, war Mitbegründer des „Neues Forum“, nach der Friedlichen Revolution von 1990 bis 2014 Stadtverordneter/Stadtrat von Bündnis 90, später Bündnis 90/Die Grünen und bis Mitte 2023 Fraktionsgeschäftsführer der Ratsfraktion